Der Wert der Wildnis - ein Besuch im Urwald

Der Wert der Wildnis oder warum die Evolution schöpferische Zerstörung als Dynamik des Lebendig seins braucht.

Die Wildnis und unser Umgang mit ihr bekam durch das Corona Covid 19 Virus eine neue, hohe Aufmerksamkeit. Das lässt mich aufatmen, weil ich mein jahrzehntelanges Engagement fürs Bewusst machen und Erleben natürlicher systemische Zusammenhänge und Ursprünge bestärkt sehe. Doch die Wildnis fordert uns, alle Evolutionsphasen als schöpferischen Teil zu erleben, auch Krankheiten und Sterben!
Das wollte ich hautnah erleben – und besuchte letzten Sommer gemeinsam mit meinem Mann das „Wildnisgebiet Dürrenstein“, Ybbstaler Alpen, in dem sich Österreichs größter Urwald befindet.

Das Betreten dieses streng geschützten Wildnisgebietes ist verboten, nur mit Führungen ist ein Erleben möglich. Die vierstündige Tour war vielfältig beeindruckend. Besonders hat mich Maria, die junge Frau, die unsere Gruppe leitete, berührt: So echt, so wahrhaftig, so mit Haut und Haaren hat sie sich dem Schutz der Wildnis verschrieben, dass mir warm um die Seele wurde. In jedem Wort, in jeder Handlung von ihr war ihr tiefes Engagement für die Natur spürbar. Diese junge Wildnisrangerin hat mich bewegt. Deshalb bat ich sie im Anschluss um ein Interview.

Liebe Maria, welchen Wert hat die Wildnis für uns  Menschen heute?

Sie ist für unser Überleben auf dem Planeten essentiell. In der Wildnis dürfen natürliche Prozesse ungehindert passieren, es findet ungehindert Evolution statt.  Das ist was Geniales. Und wir verhindern sonst überall, dass sie so rennt, wie sie rennen sollte. Durch unser Selektieren. Durch unser Bestimmen, wer leben darf und wer nicht. Es ist wichtig, dass die Natur auch diese Entscheidung trifft. In diesem Wildnisgebiet entscheidet nicht der Förster, welcher Baum steht am Ende, welcher nicht, sondern nur die Natur. Als Forstwirt*in steht man bei der Durchforstung vor der Frage: welchen Baum fördere ich, welcher Baum ist mein „Z-Baum“, Zukunftsbaum, welchen will ich am Ende ernten und welcher ist der Bedränger, der den Zukunftsbaum bedrängt? Und natürlich, man hat keine andere Möglichkeit, als rein optische Maßstäbe. Man sagt: der Baum ist astfrei, gerade, unverletzt, hat eine schöne große Krone, der ist mein Zukunftsbaum. Der astige „Hundling“ daneben der bringt mir kein Geld, das ist nicht mal richtiges Brennholz, der kommt weg. Und so formt man diese Landschaft, so bewirtschaftet man den Wald, so bestimmt man eigentlich über alles. Aber was der/die Förster*in nicht machen kann, was wir nicht können, ist in das Genom hineinzuschauen. Wir wissen nicht, welcher Baum für die Zukunft besser gerüstet ist. Welcher den geänderten Umweltbedingungen besser trotzen kann, welcher vielleicht den Klimawandel wegsteckt – wir wissen es einfach nicht. Und das ist das Fatale daran, dass wir überall mitmischen, deswegen brauchen wir solche Flächen wie das Wildnisgebiet, wo die Natur es nach ihren Kriterien entscheidet.

Du meinst, nur die Natur selber weiß, welches Baumindividuum für die Zukunft bestens  gerüstet ist?

Ja, deswegen ist das Wildnisgebiet für künftige Generationen als Genpool so irrsinnig wichtig und wertvoll! Das sind vielleicht unsere resilienten Baumarten der Zukunft. Das gleiche gilt für Krankheiten, zum Beispiel das Eschentriebsterben.

Das Eschensterben  ist auffällig. Können Eschen selber resilient werden gegen ihre Krankheit?

Das Eschentriebsterben ist seit ca. 15 Jahrren ein großes Thema in der Forstwirtschaft. Unsere jungen Eschen sind dem Pilz ‚ dem „falschen weißen Stengelbecherchen“, schutzlos ausgeliefert. Man sieht überall fast nur noch kranke Eschen oder tote Eschen stehen. Die Esche hat also ihre waldbauliche Bedeutung komplett verloren. Das war früher eine wichtige Baumart, ein ganz tolles Holz. Das ist an manchen Standorten einfach DIE Baumart. Heute ist die Zeit der Esche  einfach vorbei, wegen dieser Erkrankung. Dann schneidet man die Eschen halt raus, und setzt auf andere Baumarten usw.

Kranke Bäume rauszuschneiden, macht doch Sinn, um andere vor dem Pilzbefall zu schützen, oder?

Also das ist natürlich eine Form der Bekämpfung, dass man die kranken Bäume rausfällt. Wenn du die aber überall wegnimmst, dann hat die Esche nirgendwo die Chance, selber Strategien gegen diesen Pilz zu entwickeln. Denn es gibt immer einzelne Individuen, die resistenter zu sein scheinen. Oder gar nicht befallen sind. Und wenn man alles wegschneidet, gibt man der Baumart die Chance nicht. Hier im Wildnisgebiet  schneidet keiner eine kranke Esche um. Das Eschentriebsterben ist hier genauso, die Eschen erkranken hier auch, aber einige bleiben eben auch gesund. Einige erholen sich. Diese können sich reproduzieren, bilden Samen und die nächste Generation von resistenteren Eschen wird begründet! So kann die Esche, als Beispiel, die Krankheit überstehen.. Und das ist nur möglich, wenn wir es geschehen lassen.

Der Umgang mit natürlicher Zerstörung, mit Sterben lassen und das schöpferische Potenzial darin zu sehen, ist nicht leicht für uns Menschen….Hast du ein konkretes Beispiel, wie sich das auswirkt?

Bach im Urwald

Jährlich krachen hier im Wildnisgebiet Lawinen ins Tal, zum Teil in gewaltigen Ausmaßen. Diese nehmen manchmal hunderte Festmeter Holz mit. Das liegt dann im Frühling da und man denkt sich: Was soll diese Zerstörung? Oh je, wie sieht das denn aus? Das Holz können wir doch nicht ungenutzt da verotten lassen, wozu? Und dem Wald müssen wir jetzt helfen, Aufforsten, Maßnahmen setzen, Zerstörung verhindern…Hier im Wildnisgebiet lassen wir die Finger davon und es gibt viel zu wenig solche Flächen, wo natürliche Prozesse ungehindert ablaufen können. Ich sage „natürlich“, weil Lawinen natürliche Störungen in einem derartigen Walökosystem sind („Störung“ ist ein Terminus in der Ökologie, der nicht negativ behaftet ist. Viele denken das, weil sie den Begriff von der Psychologie her kennen). Unsere Waldökosysteme sind nicht nur angepasst an solche Störungen, sie brauchen sie sogar. Es ist irrsinnig spannend sich die Flächen der Verwüstung genau an zu schauen. Dort explodiert das Leben! Alles wandelt sich in kürzester Zeit um, neue Tier- und Planzenarten besiedeln die Fläche. Durch den plötzlichen Freiflächencharakter beginnt die Zeit der Blühpflanzen, die viel Licht brauchen und damit die Zeit der Insekten. Dann kommt langsam wieder schrittweise der Wald zurück, bis die „todbringende“ Lawine wieder aufräumt, neue Lebensräume schafft und so neues Leben mit sich bringt. Plakativ gesagt sind Störungen der Motor der Evolution!

Geschehen lassen, die schöpferische Zerstörung als natürlichen Teil einer gesunden Evolution zu sehen, das setzt die stärkste Dynamik des Lebens frei. Das macht mich demütig. Das sind vielleicht die größten Werte, die uns die Wildnis vermitteln kann oder vielleicht sogar will. Ich danke dir für dein Engagement und dieses Interview liebe Maria!

Das Interview mit Maria von Rochow führte Veronika Lamprecht

Maria von Rochow hat Forstwirtschaft studiert an der Boku in Wien, und ist im  Zuge ihrer Masterarbeit über den Borkenkäfer 2019 ins Wildnisgebiet gekommen und geblieben, weil es sie nicht mehr losgelassen hat.

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